Unter dem Druck, schnell eine
Prognose über den wahrscheinlichen Ausgang eines Sportereignisses
abgeben zu sollen, leiden fast alle Experten. Die Gewitzteren unter ihnen
behalten ihre Tips lieber für sich, denn wer sich in Gefahr begibt,
kommt darin um.
Grüße aus Mexiko! 2002
ist "Visit Mexico Year" und ich beschloß, daß einige Wochen
weg zu sein, mir gut tun würde. Mexiko träumt davon, im Jahr
2030 ein entwickeltes Land zu sein. Falls Sie mich fragen, sind sie damit
schon weiter, als sogenannte zivilisierte Staaten wie Deutschland.
Zunächst einmal behandeln sie
Schachspieler tatsächlich mit dem Respekt, den sie verdienen. Roter
Teppich, Fünf-Sterne-Hotel, Limousinen mit Chauffeur, erstklassiges
Essen und so weiter; die Art von Behandlung, die in Deutschland für
Fernsehstars und hochprofilierte Politiker reserviert ist.
Ganz schön in Anspruch genommen
wird man von den Schmeicheleien des Volkes. Falls ich den Anschein erwecke,
dies hier langsam zu schreiben, liegt das daran, daß mein Handgelenk
vom vielen Autogramme geben noch schmerzt. Besonders ein Fan, mit dem unüblichen
Namen "AmEx", hat in der kurzen Zeit meines Aufenthalts schon dutzende
Male um ein Autogramm nachgesucht (erst nach der Rechnung von American
Express wurde mir klar, was ich da so oft unterschrieben hatte).
Als ich einmal auf der Straße
stehenblieb, um ein paar Rentnern beim Schach zuzuschauen, wurde ich sofort
erkannt und verpflichtet, zahlreiche Autogramme zu geben, sowie meine Meinung
zum Spiel zu äußern, welches folgende Stellung nach dem letzten
Zug von Weiß erreicht hatte:
"Weiß gewinnt natürlich,
er hat einen Mehrbauern", sagte ich, nach kurzem Überfliegen der Stellung.
Um mich herum zustimmendes Gemurmel zur gehörten Beurteilung. Lediglich
der Spieler der schwarzen Steine schien davon unbeeindruckt, als er 1.
... Txe3 spielte. Sofort sah ich die Zugfolge 2. fxe3 Sxe3+; und 3. ...
Sxg4 würde zu einem Mehrbauern für Schwarz führen, indes
andere Züge eine zersplitterte Bauernstruktur hinterlassen.
Verlegen zog ich sofort meine vorige
Meinung zurück. "Natürlich habe ich die ganze Zeit gesehen, daß
Schwarz gewinnt", erklärte ich, "aber ich wollte Schwarz keinen Hinweis
geben." Wieder zustimmendes Gemurmel, allerdings nicht mehr ganz so nachdrücklich
wie beim letzten Mal. Dann spielte Weiß 2. Tf4, und nun waren beide
bedroht, der Turm und der Springer.
"AH! JA!", fuhr ich so überzeugend
wie möglich fort. "Genau der Grund, warum ich Weiß als den Gewinner
betrachte." Das Gemurmel der Menge klang mehr fragend als unterstützend.
Schwarz spielte nun 2. ... Tf3, und nach Berechnung von 3. Txf3 Sxd4+ 4.
Kd2 Sxf3, ganz nach dem Geschmack von Schwarz, fing ein schreckliches Gefühl
an, mich zu beschleichen.
"Das habe ich alles gesehen", würgte
ich, "und kann mit Bestimmtheit feststellen, daß Schwarz besser steht."
An dieser Stelle spielte Weiß 3. Se5+ (droht den Turm auf f3 zu nehmen)
und nach 3. ... fxe5 4. Txf3 musste Schwarz aufgeben, da Sxd4 nicht mehr
möglich war. "Ich ...", begann ich, doch die Menge hatte sich schon
unter dem Rascheln niederschwebender Autogrammblätter zerstreut.
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